Verletzung/Training/Aufmerksamkeit
Blanke Nerven machen verletzlich
Verletzungen können verhindert werden. Das Nervensystem muss dazu durch Aufwärmen von Anfang an wach sein, die Koordination zwischen den vielen Muskeln muss trainiert werden und die Aufmerksamkeit darf nicht durch belastende oder ärgerliche Gedanken gestört werden.
Sportunfälle sind auf den ersten Blick häufig unerklärlich. Zu vielschichtig ist das Zusammenspiel zwischen Muskeln, Bändern und Knochen, zu komplex ist aber vor allem die Steuerung durch das Gehirn. Für den einzelnen Sportler gibt es trotzdem klare Ansatzpunkte um Unfälle zu vermeiden. Bei allen kontrollierten Interventionsprogrammen hat sich gezeigt, dass der Verbesserung der koordinativen Fähigkeiten oberste Priorität zukommt. Die Gelenkstrukturen sind zwar vorgegeben, der eine hat straffere, der andere lockerere und damit verletzlicher Bänder, daran kann keiner was ändern. Wie gut die Muskulatur jedoch die Gelenkbewegung kontrolliert, das kann optimiert und trainiert werden.
Zentral ist die Rolle eines konsequenten Einlaufens. Meist denkt man da an das „Aufwärmen“ von Gelenken und Muskeln. Noch viel wichtiger ist aber der Aspekt des „Aufweckens“ des ganzen Steuerungssystems: Beim Einlaufen werden die Nervenverbindungen zwischen Hirn und Muskulatur, aber auch zwischen Hirn und Gelenkstrukturen aktiviert und „auf Sendung“ geschaltet. Das reduziert Reaktionszeiten und die Muskelfasern, die eben noch auf der Ersatzbank gedöst haben, sind nun wach und einsatzbereit.
Für eine optimale Bewegungssteuerung muss auch unser Kopf voll leistungsfähig sein. Viel Gewinn ohne Zusatzaufwand bringt es schon, wenn wir dem Gehirn die Arbeit nicht unnötig erschweren: Zu wenig Schlaf, zwei Cüpli zur Unzeit auf der Skipiste oder eine durch Medikamente gedämpfte Aufmerksamkeit sabotieren unseren Bewegungscomputer nachhaltig. Weniger offensichtlich ist die Einschränkung durch Erschöpfung, sei es durch sportliche Überforderung oder wegen eines zehrenden Stresszustandes. Blanke Nerven machen verletzlich.
Koordinative Fähigkeiten werden immer dann trainiert, wenn wir in unserem ständigen Bemühen, das Gleichgewicht aufrecht zu erhalten, besonders gefordert werden. Das einfachste Beispiel ist das Gehen auf einem unebenem Untergrund oder das Balancieren auf schmalen Auflageflächen. Für Kinder ist das der normale Spielalltag, wir Erwachsene müssen uns da schon bewusst darum kümmern. Dazu gibt es einfache Möglichkeiten: Wer auf einem Bein stehend telefoniert oder beim Stehen im Tram unauffällig das eine Bein einen Zentimeter abhebt und die Rüttelimpulse des Fahrzeugs als koordinative Herausforderung behandelt, ist schon mitten im Training. Auch Seilspringen auf einem Bein ist eine zweckmässige Form. In der Natur gibt es unzählige Möglichkeiten, Herausforderungen für das Gleichgewicht zu entdecken: Sei es Balancieren auf einem Baumstamm, Springen von Stein zu Stein oder ganz einfach das Laufen quer Feld ein.
Besonders herausfordernd, aber auch unfallträchtig sind Situationen, da wir überrumpelt werden von komplexen Bewegungsanforderungen. Wenn wir überraschend die Richtung wechseln oder unerwartet bremsen müssen zählt jeder Sekundenbruchteil. Entsprechende Übungen gehören ins sportartspezifische Training. So werden typische Bewegungsabläufe vorgebahnt im Nervensystem und abgespeichert. Das ergibt zusammen mit der ganzen Sporterfahrung die Basis für ein vorausschauendes Verhalten in kritischen Situationen. – Koordinationstraining ist ein Langzeitprojekt. Was nicht gefordert wird, verkümmert, so geht es auch den koordinativen Fähigkeit: sie verabschieden sich klamm heimlich.
Alles Training nützt allerdings wenig, wenn unsere Gedanken im entscheidenden Moment gerade auf Abwegen sind. Ärger und Sorgen lenken nur allzu oft ab. Da joggt Kollegin Petra friedlich ihre wohlvertraute Runde, lässt sich eben vom angespannten Dialog mit dem Partner am Vorabend einholen und schon ist es passiert: eine kleine Unebenheit wird zum Stolperstein. Oder: Ein ETH-Professer nimmt auf dem Sessellift mit seinem Blackberry Anteil an einem ärgerlichen Mailaustausch in seiner Forschungsgruppe; oben angekommen, fährt er los, das Tempo steigt, die Mails begleiten ihn – und plötzlich liegt er mit gebrochenem Oberarm auf der perfekte gepflegten Piste.
Wenn wir uns und unserem Schutzengel das Leben einfacher machen wollen, müssen wir respektieren, dass Bewegung und Sport für unser Hirn an sich schon eine anspruchsvolle Aufgabe sind. Ihr gehört in diesem Moment unsere ganze Aufmerksamkeit und drängelnde Gedanken haben zu warten, auch wenn sie murren.
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