Pulsmesser / Herzfrequenz
Vom Wert der inneren Pulsuhr
Pulsuhren am Handgelenk zeigen zuverlässig die aktuelle Herzfrequenz an. Orientiert man sich für die Belastungsintensität an Normwerten, sind aufgrund des individuell variierenden Maximalpulses Fehler vorprogrammiert. Im Zweifelsfall hat die innere Pulsuhr recht, für sie gilt nur die eigene Norm.
Dank moderner Technik ist der Einstieg in ein pulskontrolliertes Ausdauertraining fast ein Kinderspiel. Exakt und immer aktuell zeigt die Pulsuhr die Herzschläge an. Der Vorteil von soliden digitalen Informationen gegenüber dem fehleranfälligen und mühsamen Abtasten des schnellen Pulses hat auch die drei Laufnovizen Andi, Mark und Yves überzeugt. Wir begleiten sie heute bei ihrem ersten Training. Sie sind gleich alt und so gilt für sie gemäss gängigen Pulsformeln für ein fitnessorientiertes Training im mittleren Intensitätsbereich der gleiche Zielpuls. Nach einer Viertelstunde bietet sich folgendes Bild: Andi läuft weit voraus, er wirkt nicht gerade entspannt, atmet angestrengt und muss sich etwas zwingen, den Rhythmus aufrecht zu erhalten. Mark läuft locker und zufrieden. Er vermittelt den Eindruck, dass er so stundenlang laufen könnte. Beide halten die Pulsvorgabe ein, während Yves schon längst mit einem höheren Puls läuft. Er war mit dem gemeinsamen Zielpuls sehr langsam unterwegs, obwohl er ordentlich trainiert ist und er fühlte sich völlig unterfordert. So läuft er jetzt entspannt mit 15 Pulsschlägen mehr und rückt wieder auf zu Mark. Was ist mit den drei Freunden nur los? Der Zielpuls „ab Stange“ passt für Andi und Yves ganz offensichtlich nicht. Andi fordert sich zu stark, weil sein angeborener Maximalpuls und damit die ganze Pulskurve unter Belastung 15 Schläge tiefer liegt als beim statistischen Durchschnittsmenschen Mark. Yves dagegen ist unterfordert, weil sein Maximalpuls 15 Schläge höher liegt. Diesen individuellen Unterschieden ist mit allgemeinen Pulsregeln offenbar nicht beizukommen.
Yves hat das einzig Richtige getan: er hat auf sein subjektives Anstrengungsgefühl geachtet und hat sein Tempo etwas gesteigert. Die eigene Einschätzung der Strenge der Belastung ist sehr zuverlässig, sie berücksichtigt alle individuellen Spezialitäten – das Fest vom Vorabend mit eingeschlossen – und kennt keine statistischen Fehler. Dummerweise leidet dieser Topindikator an den gleichen Mängeln wie alle unsere Gefühle: Ihre Darstellung auf einem Display gelingt nur in Sciencefiction-Filmen. Stattdessen ist Aufmerksamkeit und eine feine Wahrnehmung gefragt. Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass das subjektive Anstrengungsgefühl für eine leichte, mittlere, hohe oder sehr hohe Leistung gut mit der gemessenen Belastungsintensität korreliert. Wir haben also eine zuverlässige „innere Pulsuhr“, nur ist sie eben etwas schwierig abzulesen.
Was heisst das nun für unsere drei Freunde? Der Einstieg über eine Pulsformel mag als grobe Orientierung dienen, letztlich müssen sie sich aber für ein ihrem Niveau entsprechendes Training über die innere Pulsuhr an eine mittlere Belastungsintensität herantasten. Dort haben sie einen guten Trainingseffekt, die Bewegung unterstützt die Stressverarbeitung, die Fettverbrennung läuft auf Hochtouren und das Training macht erst noch Spass bis ans Ziel. Neben dem mittleren Anstrengungsgefühl bei der Atmung fühlt sich in diesem Bereich das Laufen locker an und man kann problemlos ein paar ganze Sätze äussern, ohne dass die Atemluft knapper wird. Nicht selten wird allerdings von Ehrgeizigen ein Japsen noch als Sprechen taxiert. Dazu gibt es eine untrügliche Alternative: beim Laufen eine Strophe in normaler Lautstärke singen. Gelingt das nicht mehr, läuft man mit Sicherheit in einem hohen Belastungsbereich und nähert sich der aerob-anaeroben Schwelle. In diesem Übergangsbereich zwischen sauerstoffabhängiger Energiegewinnung und Milchsäuregärung steigt das Anstrengungsempfinden deutlich an und wir ermüden rascher. Für Andi ist es deshalb höchste Zeit, das Tempo zu drosseln, wenn er die Freude am lockeren Laufen erleben will.
Den drei Freunden dient die Pulsuhr am Handgelenk vor allem als Unterstützung beim Erforschen der inneren Pulsuhr. Haben sie später mehr Ambitionen, können sie für ein differenziertes Training über eine Maximalpulsbestimmung, einen Conconitest oder eine Lactatstufenuntersuchung ihre persönlichen Pulswerte für verschiedene Belastungssituationen bestimmen. Jede Methode hat allerdings ihre Fehlerquellen und es ist viel Erfahrung gefragt. Wenn ermittelte Pulswerte nicht zum subjektiven Anstrengungsgefühl passen, ist der Fall klar: unsere innere Pulsuhr kennt keine Messfehler.
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